Islam iQ
„Antisemitismus kein Teil unserer Geschichte und soll es auch nicht werden.“
Wir sprachen mit Moussa Al-Hassan Diaw, der sich aktiv in der „Foundation for Ethnic Understanding“ (FfEU) engagiert, über die jüdisch-muslimischen Beziehungen in Europa und wie diese weiter ausgebaut werden könnten.
Moussa Al-Hassan Diaw ist Diplom Pädagoge und Doktorand am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück (IIT). Er beschäftigt sich mit religiösem Fundamentalismus und dem Phänomen des politischen Salafismus. Diaw ist unter anderem Sprecher der „European Union of Independent Students & Academics“ (EUISA) und Repräsentant der „Foundation for Ethnic Understanding“ (FfEU).
IslamiQ: Aufgrund ihrer Situation als Minderheiten sehen Muslime in Europa ihren Glauben in Gefahr. Eine Politik der Ausgrenzung von Muslimen als die „Anderen“ schlechthin führt zuweilen dazu, dass aus Sicht der Muslime viele Maßnahmen als geheime Agenda wahrgenommen werden, mit der sie von ihrer Religion abgebracht werden sollen. Geben Sie in diesem Zusammenhang den Muslimen Recht, die die Zusammenarbeit mit Juden als eine politische Agenda sehen, die dazu dienen soll, ihre Religion aufzuweichen und zu verändern? Wie können Ihrer Meinung nach Bedenken aus dem Weg geräumt werden?
Moussa Al-Hassan Diaw: Eine verbreitete falsche Behauptung ist der Vorwurf, „der Islam“ und „die Muslime“ würden Nichtmuslime bekämpfen oder das Zusammenleben mit ihnen verweigern. Angesichts der Sira und der 1.400-jährigen muslimischen Geschichte ist das so nicht nachvollziehbar. Bekannt ist, dass Muhammad (s) selber mit Nichtmuslimen, auch mit der „Milla“ der Juden, Verträge abgeschlossen hatte, welche das Zusammenleben regelten. Bekannt ist auch, dass Muslime, Juden und Christen in Spanien 700 Jahre zusammenlebten und erst gegen Ende der politischen Dominanz der Muslime, dieses Zusammenleben beendet wurde. Auch im Osmanischen Reich existierten neben der „millet-i arman“ und „millet-i rum“ die rechtlich und kulturell autonomen „millet-i yahud“. Zu Zeiten von Pogromen gegen Angehörige anderer christlicher Konfessionen oder Juden, war das Osmanische Reich auch Zufluchtsort für jüdische Menschen.
Zu „Anderen“ erklärt zu werden, ist unter anderem auf die Wissensproduktion der Orientalisten zurückzuführen, wie sie zum Beispiel Edward Said kritisiert. Die in der Frage bezeichneten „Anderen“, das waren „die Semiten“, die Juden und Muslime, nur waren Juden in Europa schon seit Jahrhunderten präsent. Der Orientalist Ernest Renan nannte den Islam sogar eine „Manifestation des semitischen Geistes“, der zu kulturellen und künstlerischen Leistungen nicht befähigen würde. Muslime in Europa sind heute in ihrer neuen Präsenz diesen alten Klischees ausgesetzt.
Der Dialog zwischen Muslimen und andersgläubigen Menschen folgt einer muslimischen, historisch nachvollziehbaren Tradition und der klaren koranischen Aufforderung, auf beste Weise mit andersgläubigen Menschen zu sprechen (Sure 16). Ziel des Islams ist die Gerechtigkeit in der Welt zu etablieren; die Vielfalt der Menschen und Weltanschauungen ist ein Wunderzeichen Allahs.
IslamiQ: Wie ist die im Koran gegen die Juden angeführte Kritik aufzufassen? Wie haben wir zum Beispiel die Koranverse 5:12 und 5:13 oder 5:82-86 zu verstehen?
Moussa Al-Hassan Diaw: Wichtig ist es, nicht einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Stellen im Koran zur Durchsetzung (neuer) politischer und ideologischer Ziele heranzuziehen. Der Koran bezeichnet Juden als „Volk der Schrift”, mit deren Frauen Muslime eine Ehe eingehen dürfen und dass das von ihnen geschächtete Fleisch den Kriterien ritueller Reinheit entspricht und von Muslimen gegessen werden darf (Sure 5).
Was die Verse 5:12 und 13 betrifft, so lesen wir im Korankommentar des Ibn Kaṯīr dass die Banī ʾIsrāʾīl einen Eid leisteten, diesen später aber brachen. Es folgt eine Kritik, die sich gegen gebrochene Versprechen und Eide richtet, nachdem Allah die Banī ʾIsrāʾīl durch die Offenbarungen doch bevorzugt hatte. Dies ist als allgemeine Warnung und Aufforderung an alle zu verstehen, die vergangenen Völker zu betrachten, die den Propheten nicht folgten.
Bezüglich 5:82-86 erläutert Ibn Kaṯīr im Tafsīr al-Qurʾān den Besuch einer christlichen Delegation des äthiopischen Königs An-Naǧāšī von denen einige den Islam annahmen. Weiter heißt es in der Erläuterung, dass diese offenbarten Verse sich auf Menschen beziehen, zu denen diese Beschreibung passt, ob sie nun aus Äthiopien stammen oder nicht. Dies gilt dann auch für die Berichte über jüdische Gemeinschaften, die in der Vergangenheit den Propheten nicht gehorcht haben. So etwa im Fall der Anbetung eines Götzen trotz der Anwesenheit des Gesandten Mūsā (s) weswegen ein anderer Teil der Kinder Israil auf Gottes Geheiß – so wird es auch in der Thora überliefert – die Götzendiener unter ihnen, unter der Aufsicht des Gesandten (s) bestrafen ließ. Solche Überlieferungen, die im Koran thematisiert werden, sind auch eine Lehre für zukünftige Generationen Gottes Botschaft nicht zu ignorieren.
IslamiQ: Kann ein Muslim sich nicht auf der einen Seite gegen die von Israel ausgehende strukturelle Diskriminierung gegenüber Muslimen stellen, die Rechtsverletzungen gegenüber den palästinensischen Muslimen kritisieren und sich mit rechtlichen Mitteln dagegen zu Wehr setzen und auf der anderen Seite mit Juden kooperieren, um die Beziehungen zwischen Muslimen und Juden weiterzuentwickeln?
Moussa Al-Hassan Diaw: Wichtig vorab wäre: Jüdische Menschen sind weder religiös, noch politisch und auch nicht von ihrem unterschiedlichen Aussehen, Fühlen und Denken ein monolithischer, gleich denkender oder gleich säkularer oder gleich religiöser, Block, genauso wenig wie Muslime.
Gerade bei jüdisch-muslimischen Dialogtreffen wird immer wieder auch über Staaten und Themen wie Israel, Saudi-Arabien, Syrien oder Iran diskutiert. So bringen arabische Israelis oder Palästinenser aus Ramallah ihre Position sehr offen und klar zum Ausdruck, teilweise in heftigen Diskussionen mit anderen Palästinensern. Um so interessanter ist es auch zu sehen, welche unterschiedlichen Positionen jüdische Menschen einnehmen. So gibt es Rabbiner, die sagen, dass das jüdische Volk auf den Messias warten müsse, um in das gelobte Land zurückzukehren, dass jedoch der Status Quo gegeben ist, da jüdische Menschen nun mal dort lebten. Dem widersprechen nichtreligiöse, politische orientierte Teilnehmer. Automatisch kommt man auch auf die Lage im Westjordanland zu sprechen sowie die politische und soziale Stellung der muslimischen und christlichen Israelis mit arabischer Muttersprache, im Unterschied zu den Beduinen oder den Drusen.
Umgekehrt wird man dann gefragt, wie es um die Rechte in Staaten wie Iran oder Saudi-Arabien aussehen würde, auch wenn man selber kein Repräsentant dieser Staaten ist und es hier unter Muslimen sehr unterschiedliche Ansichten gibt. Es gibt also kein Sprechverbot und es wird von allen Seiten sehr kontrovers diskutiert. Tatsächlich steht angesichts der vielen Fragen das Zusammenleben in Europa bzw. in unseren Heimatländern die Außenpolitik nicht im Mittelpunkt. Eher werden die Themen Beschneidungs- und Schächtverbote in letzter Zeit intensiv diskutiert.
Sollte es eine unehrliche Form des Dialoges geben, in der die jeweils eine Seite die andere von ihrer Religion abbringen oder deren ethnische oder religiöse Identität untergraben sollte, würde der Dialog misslingen und von beiden Seiten durchschaut werden. Das kann ich für die Dialoginitiative in Österreich und Deutschland (EMJD) gemeinsam mit der EUJS und JÖH und der FfEU ausschließen.
IslamiQ: Auf welchen Feldern gibt es Möglichkeiten für die Zusammenarbeit zwischen muslimischen und jüdischen Religionsgemeinschaften in Europa?
Moussa Al-Hassan Diaw: Die Frage wäre, wo nicht? Auf alle Fälle aber zumindest dort, wo es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt geht, dort wo man religiöse Rechte und andere Menschenrechte einschränken will oder bereits eingeschränkt hat, müssen wir uns als verantwortungsvolle Bürger unserer Gesellschaften präsentieren und einbringen, wenn auch bestimmte Menschen das nicht gerne sehen. Auch dort, wo man Gefahren des religiösen und politischen Extremismus abwehren muss, gilt es zusammenzuarbeiten.
In der Vergangenheit haben die Vertreter der FfEU sich in der Beschneidungsfrage mit einem Repräsentanten des europäischen Parlaments getroffen, um zu diesem Thema Aufklärungsarbeit leisten zu können, nachdem man eine Resolution gegen die religiöse Beschneidung beschlossen hatte. Auch der Besuch einer jüdisch-muslimischen Delegation beim dänischen Minister für Landwirtschaft bezüglich der Einschränkung des jüdischen und muslimischen Schächtens gehörte zu diesen gemeinsamen Aktivitäten.
Welche Überschneidungen es gibt, zeigen antijüdische und antimuslimische Graffiti wie zum Beispiel auf der KZ-Außenmauer in Mauthausen: “WAS UNSEREN VÄTERN DER JUD IST FÜR UNS DIE MOSLEMBRUT SEID AUF DER HUT! 3. WELTKRIEG – 8. KREUZZUG“.
IslamiQ: Welches sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten psychologischen und soziologischen Hindernisse, die von beiden Gruppen überwunden werden müssen, damit das bestehende Verhältnis zwischen Muslimen und Juden auf eine bessere Grundlage gestellt und zwischen den beiden Religionsgemeinschaften eine effektive Zusammenarbeit realisiert werden kann?
Moussa Al-Hassan Diaw: Wir müssen wissen, dass es keinen muslimischen Antisemitismus und Judenhass geben kann und darf. Wir müssen uns klar machen, dass der Monotheismus der Juden und viele religiöse Praxen denen der Muslime ähneln. Es gibt sogar Gebete, die würde man vom Ablauf her mit einem muslimischen verwechseln können. Auch kann ein orthodoxer Jude sein Gebet in einer Moschee verrichten, aber nicht in einer Kirche, wie ein jüdischer Theologe und Rabbiner erklärte, eben weil Muslime aus jüdischer Sicht den sieben Geboten Noahs (a) folgen. Diese Ähnlichkeiten, weswegen sie ja auch „Leute der Schrift” genannt werden, können wir im persönlichen Kontakt erkennen.
Offen gesagt müssen die übernommenen antisemitischen Narrative – und wir haben gesehen, dass sich diese ja auch gegen „die Muslime” richten – entsorgen. Es ist wirklich verrückt, wenn aus alten überwundenen „christlichen” antijüdischen Traditionen dieselben Märchen übernommen werden. Auch die als russische Erfindung längst enttarnten „Protokolle der Weisen von Zion” zu verfilmen oder drucken, gehört als negatives Beispiel dazu.
Wir müssen uns auch von eigenartigen politisch-ideologischen Phantasien lösen. Vor kurzem fand ich im Gebetsraum des Frankfurter Flughafens ein Büchlein, in der die bekannte konstruierte Geschichte von der Erfindung des Wahhabismus nachzulesen war. Nicht nur der imaginäre Spion Hemper wird als Zeuge aufgerufen, sondern auch dafür werden im Vorwort jüdische Menschen als Mitverschwörer in Zusammenhang gebracht. In der Politik des Iran nahestehenden Kommentaren oder Karikaturen werden dann – wenig verwunderlich – auch die „Wahabiten” Saudi-Arabiens als Mitverschwörer israelischer Außenpolitik dargestellt. Offensichtlich müssen Juden als Sündenbock für wirklich jede Phantasie herhalten.
Umgekehrt gibt es auch in den verschiedenen jüdischen Communities vorhandene Ressentiments gegenüber einem nicht existierenden einheitlichen muslimischen Block. Besonders absurd ist, dass Nationalsozialismus und Islam in enger Beziehung stehen sollen, was weltanschaulich und historisch unfassbar absurd ist. Die extremen Gruppierungen, die dies machen, bezeichnen aber sogar Präsident Obama als Hitler. Hier endet jede Vernunft, es geht nur noch um absolute Feindbildproduktion.
Wir müssen uns bewusstmachen, dass in 1.400 Jahren Muslime andere Glaubensbekundungen nicht nur respektiert haben, sondern sie praktisch geregelt hatten. So wurden die Hindus von den Muslimen in Indien weder zwangsbekehrt noch mussten nichtmuslimische Gemeinschaften wie die verschiedenen orientalischen Christengemeinden, Juden oder Anhänger Zarathustras aufhören, ihre Religion und Kultur zu praktizieren. Der Islam und die Muslime haben Antisemitismus nicht erdacht, dieser ist kein Teil unserer Geschichte und soll es auch nicht werden.
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